Es war ein Dienstag. 10+0 SSW. Und mein allererster Vorsorgetermin. Wir hatten uns seit Wochen auf diesen Tag gefreut und daraufhin gefiebert. Anschließend wollten wir es der ganzen Familie erzählen, dass wir unser zweites Kind erwarteten. Ich hatte keine großen Schwangerschaftssymptome, keine Übelkeit, nur ganz zu Beginn – die Wochen nach dem positiven Schwangerschaftstest – etwas Müdigkeit, und vermehrt Pickel, die aber auch schon wieder rückläufig waren. Die Schwangerschaft war lange ersehnt, lange erhofft und wir waren unendlich dankbar, als sie endlich eingetreten war. Es lag so viel Hoffnung und noch mehr Träume in dieser Schwangerschaft und in dem kleinen heranwachsenden Kind.
Die Ärztin machte ein paar lockere Späße mit mir. Sie sagte, wir sehen erst mal mit Ultraschall nach, und dann erst gratuliere sie mir. Das hatte sie auch bei unserem ersten Kind gesagt und ich lachte. Schon beim ersten Blick auf das Ultraschallbild bekam ich ein ganz ganz schlechtes Gefühl im Bauch. Da war ein Kind zu sehen, aber es bewegte sich nichts. Es sah alles ruhig, ja, irgendwie tot aus. Kein Strampeln, kein Zucken, kein Schluckauf … alles Dinge, die ich bei unserem ersten Kind beim ersten Ultraschall sofort gesehen habe. Manchmal schlafen sie ja– so versuchte ich mich zu beruhigen. Aber das ungute Gefühl wurde stärker. Die Ärztin sagte lange nichts, machte unterschiedliche Vermessungen und verstellte immer wieder die Einstellungen am Gerät. Nach einiger Zeit drehte sie den Kopf zu mir um und sagte mit einem betroffenen Gesichtsausdruck und gedämpfter Stimme, dass das Kind ca. 1,5 cm groß sei, aber hier an dieser Stelle eigentlich ein Herzschlag sein müsse. Da aber keiner zu finden sei.
Vor meinen Augen schien das Sichtfeld zu zerbrechen. Ich schloss die Augen, Tränen stiegen hoch. Das Schluchzen kam unkontrolliert heraus und ich konnte es nicht zurückhalten. Das, was ich tief in mir irgendwie schon geahnt hatte, wurde laut ausgesprochen und zur nicht mehr schön zu redenden Realität. ‚Ich solle mich erstmal wieder anziehen, und dann sprechen wir über alles‘, meinte die Ärztin. Ich ließ mir Zeit beim Umziehen, versuchte mich zu fassen. Beim Gespräch sagte sie mir, dass das Kind der Größe nach wohl schon vor ca. zwei Wochen gestorben sei. Sie würde mir eine Ausschabung empfehlen und wollte mir einen Termin direkt am übernächsten Tag organisieren. Mein Kopf dröhnte, ich stand unter Schock und war noch ganz am Anfang, das Ganze erst mal zu begreifen. Der Termin war mir viel zu früh. Wir einigten uns auf einen Termin in der darauffolgenden Woche.
Nachdem ich wieder zu Hause war, es meinem engsten Kreis erzählt hatte und ein paar Gespräche geführt hatte, konnte ich mich besser sortieren – den anfänglichen ersten Schock überwinden. Gegen Abend am selben Tag setzten leichte Blutungen ein. Was für ein Zufall. Ich war dankbar, dass die Blutungen nicht schon Tage vorher eingesetzt hatten, sondern erst jetzt, nachdem ich Bescheid wusste und sie einzusortieren wusste. Sie erinnerten mich an die Periode. Und an das Wochenbett. An den Zyklus der Natur, an die Weisheit des weiblichen Körpers, der genau weiß, wann er was zu tun hatte. Und plötzlich fragte ich mich, warum etwas so Natürliches wie ein Abort, was es schon seit Jahrhunderten und Jahrausenden gibt und was so viele Frauen haben, einer Operation bedarf.
Ich brauchte Rat. Einen natürlichen Rat, eine Alternative zur Empfehlung der Uniklinik, wie ich weiter vorgehen soll. Ich rief Silke an, da ich ihre natürliche Sicht auf alles rund um die Schwangerschaft und ihr fundiertes Wissen im Einklang mit der Natur unglaublich schätze – wie bei allen Hebammen aus dem Geburtshaus, die ich bisher kennenlernen durfte. Von Silke erfuhr ich dann, dass die allermeisten Aborte ganz von allein geboren werden können. Falls es etwas dauern sollte, könne man es auch mit einem Medikament beschleunigen. Und wenn gar nichts anders geht, wäre als letzte Option eine OP im Sinne einer Ausschabung möglich. Das machte für mich alles sehr Sinn und hörte sich so richtig an. Ich wollte der Natur Zeit geben, und sagte den Termin für die Ausschabung gänzlich ab. Eine Last fiel von meinen Schultern. Silke bereitete mich am Telefon noch etwas darauf vor, was mich erwarten könne … viel Blut, viel Gewebe. Sagte aber auch dazu, wann es zu viel Blut wäre, und ab welchem Zeitpunkt ich besser die Klinik aufsuchen solle. Ich fühlte mich informiert und bereit für das, was kommen sollte.
Die Blutung war sehr spärlich, sehr dunkelbraun. Mit jedem Tag mehr, an dem nicht wirklich viel passierte, merkte ich auch, dass die psychische Belastung mehr wurde. Das Wissen darüber, ein totes Kind in sich zu tragen, empfand ich als sehr belastend. Ich wollte es raushaben, ich wollte es sehen. Ich fühlte mich wie ein wandelndes Grab, hatte viele Gefühlszusammenbrüche und wollte das Ganze endlich abschließen. Aber Ausschabung mit Absaugung, bei dem das Kleine in einem Massengrab landet und ich es nicht mehr zu Gesicht bekommen würde, war für mich zu dem Zeitpunkt keine Option. Ich wollte noch mindestens eine Woche durchhalten und meinem Körper Zeit geben – jetzt, da die Blutung immerhin schon mal in Gang gekommen war.
Am Freitagabend, drei Tage nach der Diagnose, wurde die Blutung plötzlich stärker und änderte ihre Farbe von altem braunrotem Blut zu hellrotem Blut. Plötzlich kamen auch große Koagel und Gewebestücke zum Vorschein und die Unterleibschmerzen intensivierten sich von periodenstark auf krampfartig. Nach Silkes Empfehlung siebte ich alles, was auf Toilette rauskam. Gegen halb eins in der Nacht bemerkte ich plötzlich zwischen all dem dunkelroten Gewebe im Sieb eine ganz helle, hautfarbene Struktur. Ganz klein, ca. 5mm groß, mit zwei dunklen Punkten. Ich wusste nicht genau, was das sein sollte – die Ärztin hatte doch ein Kind mit einer Größe von 1,5 cm gesehen. Hatte sie sich so vertan beim Messen? Auch fand ich es verwirrend, nicht erkennen zu können, wo oben und unten ist. Lediglich das, was aussah wie Augen, gab mir Anhalt für vorne und hinten. Ich versuchte ganz vorsichtig, das kleine, sehr wabbelige und fragile Etwas, mit zwei Wattestäbchen aus dem Sieb herauszuholen. Dabei zerfetzte das feine Maschengitter des Siebes das, was wie das Gesicht aussah und die Augen „gingen verloren“. Als ich es endlich schaffte, das kleine Stück auf das Wattestäbchen aufzuladen, legte es in ein Glas mit kaltem Wasser und stellte es in den Kühlschrank – stark am überlegen, was das sein könnte, und traurig darüber, dass es beim Herausholen Schaden genommen hat.
Ich legte mich mit vielen Gedanken im Kopf wieder ins Bett und sagte meinem Mann noch kurz Bescheid, dass eben wohl das Kind herauskam. Ich versuchte wieder Einzuschlafen, aber die Unterleibschmerzen wurden immer stärker, zu stark, um in den Schlaf zu finden. Ich erinnerte mich noch an ein paar Atemübungen aus der vergangenen Schwangerschaft und versuchte, die Schmerzen damit besser kontrolliert zu bekommen. Aber ohne viel Erfolg – ich war wohl zu sehr aus der Übung. Und zu Angespannt. Es waren auch keine Wehen, wie ich sie von der ersten Entbindung kannte (Wehe – Pause – Wehe – Pause -…) sondern durchgängige Unterleibschmerzen, die in der Intensität variierten, und die ich als wesentlich unangenehmer empfand, als die Wehen bei der Entbindung meines ersten Kindes. So viel unangenehmer, dass ich schon darüber nachdachte, den Rettungsdienst zu rufen, falls es noch eine Nuance schlimmer werden würde und auch der starke Blutabgang in absehbarer Zeit nicht besser werden würde.
Gegen halb fünf Uhr morgens musste ich erneut auf Toilette und fand zu meinem Erstaunen wieder etwas Hautfarbenes zwischen all den dunkelroten Gewebestücken im Sieb. Dieses Mal erkannte ich ganz deutlich einen zarten kleinen Körper mit zwei Armen und zwei Beinen, ca. 1 cm groß. Ich wurde innerlich total aufgeregt und freute mich irgendwie sogar, dass man so gut und klar die Strukturen erkennen konnte und keine Zweifel waren, dass das das Kindchen ist. Gleichzeitig war ich auch total verwirrt – hatte ich etwa zwei Kinder in meinem Bauch gehabt? Ich legte den kleinen Körper zu dem anderen Stück ins kalte Wasserglas und betrachtete beide ganz genau. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das eine war der Kopf, das andere der Körper. Scheinbar hatte es den Scherkräften nicht standgehalten und war deshalb in zwei Teilen herausgekommen. Ich empfand etwas wie richtige Freude, so ironisch das klingen mag. Ich freute mich so sehr, mein kleines Kind mit allen Strukturen vollständig vor mir zu haben, anschauen zu können, kennenlernen zu dürfen, in der Hand halten zu können. Neben dem ganzen Staunen bemerkte ich auch plötzlich, dass die Unterleibschmerzen kaum mehr da waren. Bei einem Kontrollgang auf die Toilette stellte ich fest, dass auch der Blutfluss stark zurück gegangen war. Ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit und Erleichterung durchflutete mich und neben all der Trauer und den Tränen, die mir hinunterliefen, war da auch irgendwas wie Stolz – ich hatte gerade mein zweites Kind zur Welt gebracht. Quasi eine Hausgeburt.
Den anbrechenden Tag verbrachten wir viel damit, alles zu realisieren und zu verarbeiten. Abschied zu nehmen. Wir gaben dem Kind einen Namen. Yuna Eliam – „der/die Ersehnte, die nun zu Gottes Familie gehört“. Am zweiten Tag nach der Geburt fühlten wir uns bereit, das Kind zu beerdigen. Ich spürte in mir den seltsamen Impuls, das Kind – bzw. den Körper – nicht schutzlos alleine in der Erde liegen lassen zu wollen. Wollte es zugänglich und in meiner Nähe wissen. Es brauchte eine Weile, diese Gefühle ziehen lassen zu können.
Die folgenden Stunden und Tagen ging noch sehr sehr viel Gewebe ab. Teilweise handtellergroße Stücke, einige davon konnte ich deutlich der Plazenta zuordnen. Ich war etwas verunsichert, da es so viele so große „Fleischstücke“ waren. Ich fand bei meiner Recherche heraus, dass die Plazenta bereits in der 7. SSW die Hälfte der Größe erreicht hat, die sie am Ende der Schwangerschaft haben würde. Ein für mich vollkommen verblüffender Fact, den ich hier nicht unerwähnt lassen möchte. Und der natürlich auch das viele Gewebe, das sich stückhaft löste, erklärte. Ich hatte dabei lediglich periodenstarke Unterleibschmerzen und eine auch ca. periodenstarke Blutung. Es fühlte sich alles richtig und natürlich an. Dennoch empfand ich es zunehmend belastend, immer wieder so große Stücke „Fleisch“ aus mir herausflutschen zu spüren und im Biomüll entsorgen zu müssen – ungewiss, wie viele Tage oder Wochen das noch so anhalten würde.
Am Montagvormittag – zwei Tage nach Geburt – hatte ich plötzlich ein Frösteln und fühlte mich nicht so gut, auch der Kreislauf machte mir Probleme und mir wurde häufig schwindelig. Ich rief Silke an, da ich mir etwas Sorgen wegen einer Infektion oder Gebärmutterentzündung machte. Ich durfte gleich mittags vorbeikommen, und Chris und Inna machten einen Ultraschall und tasteten den Bauch ab. Es war ein soweit nicht auf eine Infektion oder akute Sache hindeutender Befund und wir vereinbarten einen Nachkontrolltermin Ende der Woche. Ich war erleichtert. Gegen Nachmittag verstärkten sich die Kreislaufprobleme, ich fühlte mich gar nicht mehr Belastungsfähig, mein Puls ging bei kleinsten Belastungen rasend schnell nach oben und auch das Fröstelgefühl wurde mehr. Ich hatte irgendwie kein gutes Bauchgefühl und entschloss deshalb, mich kurzfristig in der Klinik vorzustellen. Dort wurde nochmal ein transvaginaler Ultraschall gemacht und Blut und Entzündungsmarker abgenommen. Mir wurde empfohlen, am nächsten Tag das restliche Gewebe ausschaben zu lassen, um einer Infektion entgegenzuwirken und dem Körper zu helfen, schneller wieder zu Kräften zu kommen. Ich fühlte mich in dem Moment tatsächlich ziemlich kraftlos und der Wunsch, schnell wieder ganz für meine Familie da sein zu können, war sehr groß. Das für mich Wichtigste hatte ich: mein Baby. Es war „gesichert“, konnte nicht mehr abgesaugt werden. Und so brauchte ich in Zusammenschau aller Umstände nicht lange zu überlegen, der OP zuzusagen.
Der Eingriff dauerte weniger als 10 Minuten. Als ich aus der Narkose aufwachte, spürte ich tiefen Frieden in mir. Es fühlte sich Abgeschlossen an. Die Schwangerschaft, die Geburt, das „Wochenbett“. Abgeschlossen, gereinigt und bereit, für einen Neuanfang. Mit einem kleinen Engel im Himmel, den ich tief in meinem Herzen trage und auf den ich mich riesig freue, ihn eines Tages richtig kennenzulernen.