Wilma

Bereits die ganze Woche über habe ich nachts immer wieder regelmäßige Wehen. An einem Morgen bin ich fest davon überzeugt – jetzt geht es los. Doch in dem Moment, in dem mein großer Sohn sich morgens zu mir kuschelt und mir einen guten Morgen wünscht, verebben die Wehen sofort.

 

Am Entbindungstermin habe ich das Gefühl, einen Blasensprung gehabt zu haben. Ganz aufgeregt schreibe ich Catalina, da ich weiß, dass die Wehen innerhalb der nächsten 24 Stunden einsetzen sollten. Doch irgendwie passiert nichts, und ich werde immer nervöser. Nachts kommen wieder starke Wehen, aber sobald mein Sohn am Morgen wieder „Guten Morgen Mama!“ sagt, lassen die Wehen sofort nach.

 

Langsam bin ich frustriert. Ich habe das Gefühl, dass ich mich nicht komplett fallen lassen kann, solange mein Sohn in der Nähe ist. Deshalb packt meine Schwester den „Großen“ ein und fährt mit ihm zu unseren Eltern. Wenn bis 12 Uhr nichts passiert, muss ich vielleicht in die Klinik. Ich verkopfe immer mehr und male mir aus, wie eine Geburt in der Klinik wohl aussehen würde. Es fließen viele Tränen. 

 

Mein Mann steht mir die ganze Zeit zur Seite und versucht, meine Ängste aufzufangen. Irgendwann entscheidet er, dass wir Catalina treffen und sehen, was sie sagt, bevor wir dann doch nach Ablauf der 24 Stunden in die Klinik gehen. Gesagt, getan – um 13 Uhr treffen wir sie im Geburtshaus. Als ich sie sehe, fühle ich mich sofort ruhiger. Sie untersucht mich und stellt fest, dass ich gar keinen Blasensprung hatte. Wir haben noch Zeit, ich bin erleichtert. Auf dem Weg nach Hause grinst mein Mann: „Sobald du Catalina siehst, wirst du zu Wachs, als ob alle Sorgen sofort von dir abfallen!“

 

Auf dem Heimweg habe ich ein paar Wehen, die jedoch wieder verebben. Zu Hause angekommen, machen wir uns einen gemütlichen Nachmittag. Um 18:30 Uhr bestellt mein Mann Pizza, in der Hoffnung, dass wir, falls es heute nicht losgeht, zumindest einen ruhigen, kinderfreien Abend haben. Immer wieder bin ich in Gedanken bei meinem großen Sohn, vermisse ihn, vertraue aber meiner Schwester und meinen Eltern und weiß, dass sie sich liebevoll um ihn kümmern. 

 

Um Punkt 19 Uhr bekomme ich eine Wehe und weiß sofort – es geht los. Und zwar schnell. Ich habe sofort sehr starke Wehen im Abstand von 2-3 Minuten. Der Pizzabote kommt, wir nehmen die Pizza in Empfang, stellen sie in die Küche und setzen uns ins Auto. Wir verabreden uns mit Catalina im Geburtshaus.

 

Um kurz vor 20 Uhr kommen wir im Geburtshaus an. Alles ist ganz ruhig und friedlich. Wir dürfen in dasselbe Zimmer, in dem schon mein großer Sohn zur Welt kam. Die Gerüche und die Lichter sind vertraut, es kommen Erinnerungen an seine Geburt hoch, und ich bekomme etwas Angst. Ich erinnere mich an die Schmerzen und realisiere, dass ich in den nächsten Stunden einen Berg erklimmen muss. 

 

Catalina arbeitet im Büro und lässt mich im Zimmer die Wehen veratmen. Das Tippen der Tastatur im Hintergrund und das Wissen, dass Catalina da ist, beruhigen mich. Mein Mann strahlt über das ganze Gesicht und ist offensichtlich voller Vorfreude. Wir beide finden von Anfang an einen Rhythmus. Bei jeder Wehe zählt er mir laut vor, wie ich atmen soll – 4 Sekunden ein, 8 Sekunden aus. Er drückt mir bei jeder Wehe sanft aufs Kreuzbein und erinnert mich daran, meinen Rücken rund zu machen und nicht zu verkrampfen.

 

Ich merke schnell, dass ich die Wehen vertönen muss. Ich erinnere mich an die Geburt meines Sohnes und weiß – jetzt sind wir mittendrin. Ab diesem Zeitpunkt habe ich meine Augen fast die ganze Zeit geschlossen. Ich bin wie in einer Nebelwolke und konzentriere mich nur noch auf das „EIN zwei drei vier AUS zwei drei vier fünf sechs sieben acht…“ von meinem Mann. An seinem Tonfall kann ich hören, dass er beim Sprechen lächelt. Das gibt mir unglaublich viel Kraft. Wenn er lächelt, mache ich es offensichtlich richtig, denke ich mir. Es gibt mir so viel Kraft zu wissen, dass er mich hält, dass er in diesem Moment stolz auf mich ist und Freude daran hat, mich beim Gebären zu beobachten und mich zu stützen. Wir machen das zusammen, wir haben es schon einmal geschafft. Wir sind ein Team. So wie bei der Geburt meines Sohnes überkommt mich eine tiefe Verbundenheit zu meinem Mann. Er sitzt am Rand des Bettes, und ich knie zwischen seinen Beinen auf der Gebärmatte.

 

Catalina fragt, ob ich noch in die Wanne möchte. Ja, unbedingt. Der Gedanke an warmes Wasser fühlt sich erlösend an. 

 

Nach ein paar Minuten fragt Catalina, ob sie eine vaginale Untersuchung machen soll. Ja, das will ich. Während sie mich im Liegen untersucht, bekomme ich eine sehr schmerzhafte Wehe – ich bin froh, schnell wieder in den Vierfüßler gehen zu können.

 

Wir sind bei 7-8 cm. Ich kann meinen Ohren nicht trauen. So weit schon? Wir sind doch gerade erst angekommen! Ich schaffe es bald! Die Wehen prasseln über mich herein, und die Atmung sowie die Anleitung meines Mannes sind mein Rettungsseil. Meinen Rücken rund zu machen und in jede Wehe hineinzugehen, kostet mich jedes Mal Überwindung – am liebsten würde ich ins Hohlkreuz gehen und mich verkrampfen. Doch ich weiß, dass es dadurch schlimmer wird.

 

Plötzlich spüre ich, wie ihr Köpfchen in den Geburtskanal rutscht. Wilma! Zum ersten Mal denke ich an sie. Ich war so auf mich und den Schmerz konzentriert, doch jetzt ist da dieser kleine Mensch, der heraus möchte. Hallo! 

 

„Sie kommt!“ rufe ich. Dann also doch nicht in die Wanne. 

 

Nun geht alles ganz schnell. Mein Mann erzählt mir später, wie Catalina von links nach rechts springt, Pia und die Hebammenschülerin anruft und alles für die Geburt vorbereitet. Wir hatten alle nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht.

Dann überkommt mich ein so großer Pressdrang, wie ich ihn von der Geburt meines Sohnes nicht kenne. Ich kann nichts mehr dagegen tun, ich spüre, wie ihr Köpfchen immer tiefer rutscht. Ich mache meinen Rücken rund. Das klappt so gut, denke ich! Ich mache alles richtig! Sie kommt! 

 

Der Pressschmerz zerreißt mich fast, ich schreie und rufe: „DU SCHAFFST DAS, WILMA!“ Das hilft mir. 

 

„Langsam, Annika. Atme durch die Lippen“ höre ich Catalinas Stimme ganz klar. Okay. Ich pruste durch die Lippen. Sofort fühle ich, wie der Pressdrang erträglicher wird, zumindest für einige Sekunden. Dann geht es wieder los. Es sind keine Presswehen mit Pausen dazwischen. Es gibt keine Pause. Ich nehme meine Hand und fühle. Das Köpfchen! Ich kann das Köpfchen spüren! 

 

Raus mit ihr, denke ich mir! Ich ertrage das nicht mehr, sie muss jetzt raus! Ich schreie: „RAUS, WILMA! Du schaffst das!!“. Ich drücke oben auf meinen Bauch, um ihr einen letzten Schubs zu geben. Werde ich reißen? frage ich mich. Das geht doch viel zu schnell! Die Fruchtblase platzt und ich presse mit aller Kraft die ich habe. 

 

Dann kommt ihr Köpfchen. „Das Köpfchen ist da! Jetzt nur noch der Körper!“ rufe ich. Ich höre meinen Mann über diese Aussage lachen. Und schwups – ist ihr Körper geboren. Ich schaue zwischen meine Beine. Da liegt der kleine Mensch – ganz helle Haare und ganz helle Haut. Ganz anders als mein Sohn. Ich denke gar nicht weiter nach, ziehe mein T-Shirt aus, nehme sie hoch und in den Arm. 

 

Ich habe es geschafft. Die Schmerzen sind vorbei. Alle Gerüche, das gedimmte Licht, Catalinas Stimme, alles bringt mich zurück zur wunderschönen Geburt meines Sohnes. Und trotzdem ist es ein ganz neues, anderes Erlebnis. Mich überkommt ein riesiger Stolz und Erleichterung. „Ich hab es geschafft“ höre ich mich sagen. „Ich bin so stolz auf mich!“ Ich kann mein Glück in dem Moment kaum fassen. Bin unglaublich dankbar, dass ich meinen Mann und Catalina an meiner Seite hatte. 

 

Mein Mann und ich legen uns mit Wilma ins Bett. Die Nachwehen sind sehr schwer zu ertragen, ich fange an zu weinen „Ich will keine Schmerzen mehr haben!“. Mein Mann hält mich. Endlich ist die Plazenta geboren. Ich atme tief durch. 

 

Ich darf Wilma das erste Mal anlegen. Vor diesem Moment hatte ich große Angst nach der schwierigen Stillbeziehung mit meinem Sohn. Sie dockt an und ich stille sie ohne Schmerzen. Ich spüre eine Ruhe, die mich noch Wochen nach der Geburt begleitet. Wir sind jetzt komplett. Wilma hat uns noch gefehlt und jetzt ist sie da. 

 

Auf dem Weg nach Hause kommt mir wieder das Gedicht in den Sinn, welches ich mir zur Geburtsvorbereitung mehrmals durchgelesen habe. 

 

 

Loslassen 

 

Wenn du wirklich begriffen hast, was das ist 

Loslassen, Hingabe

wenn alles in deinem Körper offen, frei und entspannt ist,

auch der Mund, der Hals, die Hände, die Augen,

dann brauchst du im Grunde nichts mehr zu tun.

Es ist wie in der Liebe

öffne Dich und lasse es geschehen

Lass das Kind zur Welt kommen.

Es genügt schon, dass Du ihm nichts entgegensetzt

 

dass Du dich nicht fürchtest, Dich nicht verwirren lässt

von der Kraft, der ungeheuren Gewalt

mit der das Kind geboren werden will.

 

Es ist Dein höchstes Opfer,

Dein vollkommener Verzicht.

Etwas in dir muss dem Kind sagen können:

 

Ja verlass mich.

Das ist das Leben.

Vor dir.

Nimm es

 

(Frederick Leboyer)

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