Am Sonntag, dem 12. August 2018, um 7.22 Uhr liegt Finus plötzlich vor uns auf dem Boden. Zwischen Schleim, Blut und Nabelschnur räkelt sich da ein kräftiges, blaues Baby und schreit. Meine Frau Rike und ich sind beide völlig perplex, auch unsere Hebamme Chris wird später verraten, dass sie Finus mindestens eine Wehe später erwartet hat. Aber jetzt ist er da. Rike spricht ihn direkt an („Wo kommst du denn her?“), streichelt ihn, wischt ihn sauber. Mir kommen die Tränen. Ein unfassbarer, unbeschreiblicher Moment. Wir haben es geschafft: Unser Sohn ist geboren!
20 Stunden vorher. Rike weckt mich gegen elf Uhr am Samstagvormittag: Sie glaube, sie habe Wehen. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob es nicht doch noch normale Vorwehen sind, aber ich merke sofort, dass es jetzt anders ist: Ziemlich regelmäßig alle 18 bis 20 Minuten muss sie sich an irgendetwas festhalten, atmet dann tief ein und aus; dann kommt auch noch Durchfall hinzu. Wir sind uns sicher: Es geht los. Wir sind ohnehin schon neun Tage über dem errechneten Termin, zwei Tage vorher war Rikes Schleimpfropf abgegangen, und am Freitag hatte Chris hatte gesagt, Rike sei „sowas von reif“ und wir würden am Wochenende „sicher zusammen im Geburtshaus zugange sein“, dazu gab es Globuli von ihr. Also sind wir jetzt, als es losgeht, nicht allzu überrascht, räumen erst noch ein wenig auf, packen die Tasche weiter, gehen in die Badewanne und im Wald spazieren, bringen unseren Hund zu einem Freund. Im Lauf des Tages verkürzt sich der Abstand zwischen den Wehen erst auf 15, dann auf zehn Minuten. Irgendwann am frühen Abend schlägt Rike vor, einen Marmorkuchen zu backen. Chris hatte am Tag zuvor noch gesagt: „Wenn du Lust bekommst, einen Kuchen zu backen, wird es ernst.“ Und so ist es: Während wir noch Mehl, Alsan und Zucker verrühren, muss Rike zum Wehen Veratmen auf den Gymnastikball – beziehungsweise auf den Wohnzimmerboden, mit dem Körper über den Ball gebeugt. So wird sie den Großteil der nächsten Stunden verbringen. Die Wehen seien jetzt deutlich stärker, sagt sie. Und sie kommen alle sechs Minuten. Ich backe den Kuchen alleine zu Ende. Dann rufe ich Chris an. Rike soll versuchen, sich zu entspannen, einen Film schauen, abends um elf sollen wir uns nochmal melden. Als es soweit ist, schreibe ich Chris, dass die Wehen nun schon eine ganze Weile alle vier Minuten kommen und zirka 30 Sekunden dauern. Und dass die Wehen zwar heftig sind, Rike sie aber immer noch als „aushaltbar“ beschreibt und in den Wehenpausen immer noch Witze machen kann. Außerdem frage ich von Rike, ob es normal ist, dass kein Blut kommt und dass sie nach den Wehen stark zittert. Beides sei normal, antwortet Chris. Wir sollten uns wieder melden, wenn die Wehen eine Minute dauern.
Um zehn vor zwei in der Nacht ist es soweit. Chris stimmt per SMS zu: „Also jetzt ab ins Auto. Um 2:20 Treffen im Geburtshaus.“ Während der Fahrt muss ich einmal anhalten, damit Rike auf dem Rücksitz eine Wehe wegstöhnen kann, ohne dabei auch noch die Schlaglöcher in der Straße spüren zu müssen. Eine ganze Weile schon gehe ich bei den Wehen mit, halte Rikes Hand oder lasse sie sich in meinen Unterarmen festkrallen. Wir haben zur Vorbereitung auf die Geburt gemeinsam einen HypnoBirthing-Kurs besucht, bei diesem Konzept spielt auch die Geburtsbegleitung eine wichtige Rolle. Wir haben für jede Geburtsphase Hilfsmittel zur Hand, die richtige Atmung und Massagen etwa, außerdem habe ich für Rike eine Trance und entspannende bzw. motivierende Affirmationen aufgesprochen. Und wir reden von Wellen und nicht von Wehen.
Am Seiteneingang des Geburtshauses empfängt uns Chris. Drinnen ist das Licht gedimmt, Kerzen brennen, man hört das Badewasser einlaufen. Ich beziehe das Bett, schließe im Badezimmer den Laptop an, damit wir die Affirmationen weiterhören können, stelle Essen und Trinken bereit. Zwischendurch stütze ich Rike bei den Wellen, die nun etwa alle drei Minuten kommen. Chris untersucht Rike und stellt fest, dass der Muttermund schon fünf Zentimeter geöffnet ist. Wir sind froh, dass wir uns nicht „viel zu früh“ auf den Weg ins Geburtshaus gemacht haben. Chris gibt Rike ein homöopathisches Zäpfchen und schickt sie in die Badewanne, ich steige kurz danach dazu. Rike fühlt sich zunächst nicht so wohl, der Ortswechsel hat sie etwas aus ihrer Entspannung herausgerissen (Später fragen wir uns: Wie muss das erst im Krankenhaus sein?). Zuhause sei alles so gut gelaufen, sagt sie. Ich antworte, dass alles genau richtig ist, wie es jetzt ist, und wir jetzt nirgends besser aufgehoben sein könnten als im Geburtshaus. Eine halbe Stunde später hat Rike sich an die neue Umgebung gewöhnt. Chris kommt immer wieder rein, hört die Herztöne des Babys und fragt Rike, wie sich die Wellen anfühlen. Die sind offensichtlich stärker geworden, Rike tönt immer lauter, krallt sich immer fester an mich, in den immer kürzeren Wellenpausen spricht sie kaum noch.
Irgendwann, wir sitzen schon eineinhalb Stunden in der Wanne, fühlt Chris nochmal Rikes Muttermund – während einer Welle. Er ist zwar immerhin sechs bis sieben Zentimeter geöffnet, dennoch gibt es ein Problem: Die Kraft der Wehen drückt den Kopf des Babys nicht genau auf den Muttermund. Chris überlegt kurz, dann kommt die Anweisung: Raus aus der Wanne, ab aufs Bett, erst fünf Wellen in der Knie-Ellenbogen-Lage, dann je fünf Wellen in rechter und linker Seitenlage; dazu nochmal zwei Zäpfchen. Es werden jedes Mal ein paar mehr als fünf Wellen, da Rike nicht so schnell ihre Position ändern kann. Die Wellen sind jetzt richtig heftig, Rike tönt ab und zu statt einem tiefen „ooohhh“ ein langgezogenes „Fuck“ oder „Scheiße“. Ich übernehme immer mehr die Kommunikation mit Chris, sage etwa: Ja, machen wir, aber erst nach der nächsten Welle. Danach untersucht Chris Rike erneut, der Muttermund ist acht Zentimeter geöffnet, das Köpfchen trifft ihn zentriert – der Plan ist also aufgegangen.
Als nächstes geht es auf den Boden, erst in den Vierfüßlerstand, dann in die Hocke, dann in den Hirtenstand (ein Bein steht auf dem Fuß, eines auf dem Knie). Rike hat tatsächlich noch die Nerven, in den kurzen Wellenpausen mit Taschentüchern selbst ihre Ausscheidungen wegzumachen. „Ich frage mich, wann die Fruchtblase endlich platzt“, sagt Chris. „Oh Gott, die hatte ich ganz vergessen“, antwortet Rike, „kann die nicht bis zur Geburt intakt bleiben?“ Lieber nicht, findet Chris. Und gibt Rike den Tipp, an eine platzende Wasserbombe zu denken. Bei der nächsten Welle macht es „platsch“. Wir können es alle drei kaum glauben. Chris‘ Hose ist so nass, dass sie sich später umziehen muss.
Kurz darauf muss Rike erneut aufs Bett, um den Druck vom Damm zu nehmen. Welle um Welle rauscht heran, die Pausen dazwischen dauern vielleicht noch 20 Sekunden, genau können wir das beide nicht mehr sagen. Chris fühlt wieder nach dem Muttermund: Er ist komplett geöffnet. Ich warte auf die gefürchtete Übergangsphase, in der Rike einfach nur noch weg will oder mich beleidigt. Doch sie kommt nicht. Plötzlich befindet sie sich mitten in den Presswellen. Sie atmet die Wehen bildlich nach unten, wie sie es im HypnoBirthing-Kurs gelernt hat, dazu tönt sie entweder ein „o“ oder stöhnt ein lautes „Ja“. Sie liegt immer noch in der Seitenlage auf dem Bett, als Chris zu mir sagt: Fühl doch mal, euer Sohn hat schon ordentlich Haare auf dem Kopf. Ich kann tatsächlich seine Haare ertasten, ein verrücktes Gefühl. Du hast es bald geschafft, sage ich zu Rike.
Mittlerweile ist es sieben Uhr morgens, draußen ist es hell, unsere zweite Hebamme Inna ist zwischenzeitlich auch gekommen. Rike muss wieder in die Hocke, ich setze mich auf den Bettrand hinter sie. Chris sagt, dass wir bis spätestens acht Uhr durch sein werden. Kurz darauf muss Rike wieder in eine neue Position: Immer noch am Bettrand auf dem Boden, aber mit dem Gesicht zum Bett und also auch zu mir, wieder im Hirtenstand. Später wird Chris verraten, dass die Herztöne des Babys da schon nur noch bei 100 lagen und sie deshalb zügig machen wollte. Darum gibt sie nun die Anweisung, dass Rike sich mit dem Oberkörper aufrichten soll. Sie tut es, wieder vergehen zwei, drei Wellen. „Ok, und jetzt schließ mal den Mund und schieb mit ganzer Kraft nach unten!“, sagt Chris. Rike macht es – und zack: Finus ist da. Unfassbar!
Rike spricht ihn, wie bereits geschrieben, direkt an, streichelt ihn, wischt ihn sauber. Chris gibt ihr ein Tuch, dann wickelt sie Finus in ein Handtuch. Wir alle wundern uns, wie neugierig er mit großen, wachen Augen in die Welt blickt. Rike legt sich mit Finus im Arm aufs Bett, versucht direkt ihn zu stillen und es klappt zumindest ein bisschen. Nachdem wir drei einige Minuten gekuschelt haben, sagt Rike: „Oh nee, da kommt schon wieder `ne Welle.“ Die Plazenta wird geboren. Rike fragt ungläubig, ob sie wirklich nicht ins Krankenhaus müsse, ob wirklich alles gut gegangen sei. Chris und ich lachen: Ja, alles ist gut! Was für eine Erleichterung, auch für mich. Allerdings folgt der Plazenta ein guter Schwall Blut. Rike bekommt darum zunächst Globuli, später auch noch einen Zuckerwassertropf für den Kreislauf. Chris schneidet die Nabelschnur durch. Während Rikes Geburtsverletzungen genäht werden, lege ich Finus auf meine Brust.
Chris staunt, wie groß unser Sohn ist. Ganz anders, als wir alle erwartet hatten. Rike und ich sind eher schmal, bei den ersten Ultraschallen lag Finus‘ Gewicht immer unter dem Durchschnitt. Nun zeigt die Waage stolze 3940 Gramm an. Chris führt das auch auf Rikes Ernährung zurück: Als Veganerin achtet sie sehr auf die ausreichende Versorgung mit Nährstoffen, während der Schwangerschaft hat sie etwa massenweise Hülsenfrüchte gegessen. Unser Beispiel zeigt also: Auch oder gerade mit einer veganen Ernährung kann man gesunde Kinder gebären (Zwei Monate später bestätigt sich das: Finus gedeiht wunderbar und wiegt schon über sechs Kilogramm; alle Untersuchungsergebnisse sind super). Auch die Fußabdrücke, die Chris irgendwann nach der Geburt macht, sind riesig.
Die vier Stunden nach der Geburt vergehen wie im Flug. Inna kocht Kaffee und holt Brötchen (und eine frische Hose für Chris), Chris macht Fotos von uns, wir sammeln die Wäsche zusammen und ziehen das Bett ab, Rike legt Finus nochmal an, ich ziehe ihn an und laufe mit ihm durchs Geburtshaus. Es ist verrückt, wie selbstverständlich alles ist, wenn man dabei ist. Wir lachen viel und albern rum (zum Beispiel weil Inna mehrmals betont, wie eklig es sei, dass Chris für Rike ihre Plazenta in mundgerechte Happen vorschneidet). Dabei ist kurz zuvor ein neues Leben entstanden: ein kräftiger Junge mit braunen Haaren und wachem Blick, der in der nächsten Zeit unser Leben bestimmen wird. Um kurz nach elf machen wir uns auf die Heimfahrt, Chris fährt hinterher, wir packen Rike und Finus ins Bett, wo wir drei den restlichen Tag schlafend verbringen werden.
Später wird Rike sagen, dass sie während der Geburt kein einziges Mal „Angst“ vor der nächsten Welle gehabt habe oder gar ans Aufgeben gedacht habe. Sie habe ihre Gedanken abgestellt und nur im Moment gelebt, sich ganz auf ihren Körper verlassen und zum Baby hin gefühlt. Das sind die wichtigsten Tipps, den sie weitergeben würde. „Schmerzen“ in dem Sinne habe sie nicht gespürt, sondern vielmehr intensive Empfindungen (die Schmerzen bei ihrer letzten Blasenentzündung seien schlimmer gewesen). Mit diesem Bericht möchte sie darum Frauen Mut machen, an sich und ihre Fähigkeit, ein Kind zu gebären, zu glauben, selbst wenn sie sonst sorgenvoll sind, Zweifel haben oder ein großes Kind erwarten. Die Geburt kann trotzdem natürlich und selbstbestimmt erfolgen – ja, Rike würde ihre Geburt sogar als „schön“ bezeichnen (und sie redet bis heute täglich davon).
Unseren Hebammen, allen voran Chris, sind wir unendlich dankbar, dass sie uns so großartig durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett begleitet haben, mit viel Fachkompetenz, Gelassenheit, Mitgefühl, Vertrauen und Humor. Vor allem die Geburt wäre ohne Chris sicher nicht so reibungslos gelaufen. Sie wusste in jeder Situation, was zu tun ist, gab uns Raum, wenn wir ihn brauchten, und übernahm die Führung, wenn es nötig war. Auch auf die Wochenbett-Besuche haben wir uns immer gefreut und die lustige Zeit genossen. Zusammenfassend kann man sagen: Dass wir uns für eine Geburt im Geburtshaus entschieden haben, war vermutlich eine der besten Entscheidungen unseres Lebens!