Mädchen

Für Teresa,
meine Freundin

Ist es nicht ein bisschen zu persönlich, einen Bericht über die Geburt meiner Tochter online zu stellen? …dachte ich noch. Und verwarf den Gedanken direkt wieder. Das Schmökern auf der liebevoll gestalteten Homepage des Geburtshauses und die Lektüre der zahlreichen Geburtsberichte waren meine unentbehrlichen mentalen Vorsorgen, während ich den Großteil meiner Schwangerschaft in der weiten Welt unterwegs war. Ich kenne keine der Autorinnen persönlich, und doch hat jede einzelne dazu beigetragen, dass ich nach und nach eine wundervolle Idee davon bekommen habe, wie schönes -und schön selbstbestimmtes- Gebären aussehen kann. Bei jeder Geburtsgeschichte habe ich mitgefiebert und dazugelernt. Die Texte zu lesen haben das Vertrauen in mich und meine kleine Bauchbewohnerin, meine Intuition und meine Vorfreude immer wieder neu erfrischt und bestärkt. Die Idee der Geburt formte sich. In konspirativen Momenten bin ich diese Idee gedanklich mit meiner Tochter durchgegangen. Und geschadet hat das ganz sicher nicht.
Meinem Geburtsbericht möchte ich daher ein herzliches Dankeschön voranstellen: An das Geburtshausteam für die einladende und informative Homepage, aber vor allem an alle Frauen, die so frei waren, hier ihr Geburtserlebnis zu teilen. Ich hoffe, dass ich mit den folgenden Zeilen ebenfalls einen Teil dazu beitragen kann, dass sich irgendjemand da draußen auf irgendeine Weise mental besser auf die Geburt seines Kindes vorbereitet fühlt, und sich dieser Angelegenheit somit noch ein bisschen bewusster, gelassener und glücklicher hingeben kann.



An jenem Abend lachte die Stimme da draußen noch herzlich darüber, dass sie angeblich alle nächtlichen Symptome einer Hochschwangerschaft an den Papi abgegeben habe. Er schliefe extrem unruhig, hätte seltsame Alpträume und renne ständig zum Pipi-machen aufs Klo. Doch just die darauffolgende Nacht erwies sich auch für uns als ungewöhnlich ungestüm. Ich zählte rund vier Umdrehungen in der Minute, und vor Übelkeit war an Schlaf kaum zu denken. Ich boxte mürrisch gegen die Wand. Schon seit geraumer Zeit wurde es hier drinnen immer enger – Und jetzt auch das noch!

Um halb sechs morgens weckt mich der Blasensprung. Richtig sicher bin ich mir der Sache zunächst nicht, doch der tiefblaue PH-Teststreifen lässt keine Zweifel: Heute ist der Tag. Ich lege mich wieder ins Bett und warte noch ein Weilchen gespannt auf … ja auf was denn eigentlich? Ich frage mich zum ersten Mal: Wie fühlt sich eine Wehe eigentlich an? Wie eine Welle natürlich, klar. Ich habe im Geburtsvorbereitungskurs natürlich gut aufgepasst. Allerdings habe ich mich nie genauer danach erkundigt, was diese Metapher denn dann im ganz real-konkreten Sinne meint. Ich male also eine mehrspaltige Tabelle, um zu dokumentieren, was ich in den nächsten Stunden, mal mehr, mal weniger, mal einzeln, und schlussendlich mehr oder weniger zusammen verspüren sollte: „Ziehen“, „Druck“ und „Kontraktion“. Sobald die minutengenaue Zeitangabe notiert ist, verteile ich entsprechend Kreuzchen. Fleißig messe ich zweistündig meine Temperatur und kritzele dafür eine weitere Spalte an den Notizblockrand. Geburtserfahrene Leserinnen und Leser haben es längst bemerkt: Es handelt sich in dieser Geschichte ganz offensichtlich um eine Erstgebärende!

Die Stimme da draußen grummelte und seufzte. Ganz offensichtlich gefiel ihr das Hin und Her auch nicht sonderlich. Schließlich hielt es für wenige Stunden still, doch viel früher als eigentlich gewohnt, ging die Senkrechte los. „Halb sechs!“ hörte ich es jubilieren. Und kurz später: „Aha, ein vorzeitiger Blasensprung! Hab‘ ich mir ja schon halb gedacht!“ Aus einem mir völlig unerfindlichen Grund schien die Stimme da draußen äußerst beglückt darüber zu sein, dass dieser ‚Blasensprung‘ genau auf halb sechs morgens fiel. „Vorzeitig“ fand ich ihn jedenfalls auch, denn das mit dem Ausschlafen in der Waagrechten hatte sich damit wohl erledigt. Dem Lärm nach zu urteilen gab’s dann wohl erstmal ein großes Frühstück. Da war sie dahin, die Möglichkeit auszuschlafen! Ich drückte meine Beine immer wieder ärgerlich gegen die Wand und dachte das erste Mal ernsthaft daran auszuziehen.

Ich bin überglücklich mit dem Timing: der Tag hat gerade begonnen, ich fühle mich ausgeschlafen, die Kontaktlinsen sitzen. Der Papi schläft noch drüben im Gästezimmer. Er kränkelt und hat beschlossen, dass eine starke Erkältung u n d eine stark schwangere Frau zusammen dann doch eine zu große Zumutung für seine Nachtruhe darstellen würden. Ich lasse ihn ausschlafen und spiele gedanklich ein paar originelle Möglichkeiten durch, wie ich ihm später die anstehende Geburt seiner Tochter mitteilen könnte. Erstmal lecker frühstücken mit der angehenden Oma, die längst eingeweiht ist. Ans Weiterschlafen ist nicht zu denken; das ist alles viel zu spannend. Gegen 8 Uhr setze ich unsere Hebamme Chris via SMS in Kenntnis. Meine Neugierde ist immens, doch noch herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Ich schlürfe Himbeerblättertee mit Eisenkraut, setze alsbald bei „Druck“ und „Kontraktion“ erste schüchterne Kreuzchen, und putze bei bester Laune und Musik tanzend die Küche. Der Papi ist nun endlich erwacht; er habe schlecht geschlafen und ganz so fit sieht er tatsächlich nicht aus. Er findet das Timing nicht so dufte wie ich. Wir kontaktieren Chris nochmals und klären ab, ob man mit einem Männerschnupfen der Gebärenden und dem Geborenen überhaupt zu nahe kommen darf. Wir bekommen grünes Licht. Erkältungen jedweder Art stellen keinerlei Hindernis für die Anwesenheit bei einer Geburt dar.

Schreck lass nach, durchfuhr es mich. Was war es denn plötzlich so eng da drinnen. Das Wasser schwuppte weg! Und schon wieder! Ich lag schon beinahe auf dem Trockenen und die Wand fing an regelrecht an mir zu kleben. Und dann auch noch das Fluchen da draußen bei jedem Schwupp. Unmöglich! Meine Auszugspläne wurden konkreter. „Eine Glückshaube wird es wohl nicht!“ wettert es. Papis Stimme, zuletzt immer hustend und etwas wehleidig, hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört. Umso glücklicher war ich, als ich den üblichen Tonfall vernahm. „Echt? Oh. Heute schon? Gut. Lass mich ins Büro. Ich muss vorher noch was abschließen.“ Das war mir sehr sympathisch und erinnerte mich daran, dass auch ich noch was abschließen wollte. Ich gähnte also ausgiebig und setzte mein Schläfchen fort. Es ertönte Musik und ein angenehmes Schunkeln versöhnte mich schon fast wieder mit meiner unhaltbaren Wohnsituation.

Der Vormittag zieht sich hin, der Papi verschwindet im Büro, ich überprüfe den Koffer für unsere ‚Reise‘ ins Geburtshaus. Es ist Ende März, aber schon ein außerordentlich warmer Tag: 20 Grad! Ich packe daher noch ein zweites, weniger winterliches Outfit für die neue Erdenbürgerin ein und sorge dafür, dass alles im Auto verstaut wird. Treppe hoch, Treppe runter. Mal halbstündig, mal viertelstündig gibt es Anlass, etwas in meiner Tabelle zu notieren. Doch alles in allem bin ich etwas enttäuscht, wie harmlos sich die ersten Stunden gestalten, und dass ich mich überhaupt gar nicht anders fühle als sonst. Das vermeintlich Spektakulärste an diesem Morgen ist mein Versuch, ein Bad zu nehmen. Er scheitert bereits nach drei Minuten daran, dass ich „Ziehen“ und „Druck“ plötzlich überhaupt nicht mehr gut vertrage. Aha! Das beweist: Es sind echte Wehen. Zumindest habe ich das mal gelesen. Zurück an Land entspannt sich die Lage wieder. Ein paar abschätzende Blicke treffen mich. Ob das heut noch was wird? …höre ich es sagen. Ja, aber sicherlich! Selten bin ich mir einer so ungewissen Sache so gewiss gewesen.

Völlig ermüdet von der unruhigen Nacht schlief ich ein. Ich träumte vom Meer, von einem Strand in der Karibik, den mir die Stimme da draußen einmal ganz detailliert beschrieben hat, als sie nicht ganz so sehr in Aufregung war wie an jenem Morgen. Das Meer hat mich herumgewirbelt und mich mit seinen Wellen davon getragen. Aber mit dem Meer, sagte die Stimme da draußen im Traum zu mir, ist es wie mit der Liebe. Man muss sich hineingeben und hingeben, man darf sich auf keinen Fall panisch aufbäumen, wenn man in bewegten Gewässern schwimmt. Man muss abtauchen und die Augen weit öffnen, sich vom Wasser ums Riff treiben lassen, nur dann kann man die Schönheit des Meeres und des Moments erst erkennen. Es stürmt nicht weniger wild da unten als dort oben, aber wo Korallen, Fische und Seegras mit dem Wasser tanzen, fühlt es sich gleich friedlicher an.

Für 12 Uhr werden wir sicherheitshalber ins Geburtshaus bestellt, um die Herztöne des Babys zu checken. Dies ist ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt, denn etwa eine dreiviertel Stunde vorher reißt mich die erste Wehe, bei der mir das Kreuzchen-Setzen vergeht, in den Notvierfüßlerstand irgendwo auf dem Flur. Schlagartig wird mir bewusst, was es mit diesem mysteriösen „Veratmen“ auf sich hat, und frage mich, wieso in aller Welt so viel darüber theorisiert wird. Wie denn sonst soll ein Körper bitteschön auf dieses enorme innere Kräftespiel reagieren? Man kann doch gar nicht anders, denke ich, und finde auch meine ersten langen Aaaaaaaaaaaaahs und Ooooooooooohs erschreckend natürlich und opportun. Hatte ich mir nicht irgendwann einmal geschworen, niemals nur einen dieser animalischen Laute von mir zu geben? – Tönen? Ich? Nie im Leben!! …ja, ja, ja, das kann schon sein – Egal! Nicht nur, dass dieser spezifische Zustand so viel, viel erträglicher wird – Nein! Ich habe sogar das deutliche Gefühl, dass ich die wellenden Wehen und die wehenden Wellen damit steuern kann. It’s a kind of magic?! Oder bilde ich mir das bloß ein? Auch egal! Ich töne weiter in lustigen Melodien, um mich und meinen Gefährten bei Laune zu halten. Denn jetzt geht’s los. Wir setzen uns in den Wagen. Ich habe mein Protokoll zur Hand und trage nach, wozu ich vorher nicht im Stande war. Ich setze Ausrufezeichen, um die neue Qualität der Wehen zu dokumentieren (…lässt sich eigentlich leicht erraten, dass ich im eigentlichen Leben Forscherin bin?). Doch in Hagelloch ankommen ist der ganze Spuk plötzlich wieder vorbei.

Das Nächste an was ich mich erinnere, war ein fürchterlich lautes und penetrantes Getöse und Geglucker. „Kohlensäure“ frohlockte es. Mit einem Schlag war ich hellwach. „Das macht einen riesen Lärm. Hat wunderbar geklappt, es bewegt sich.“ Was für eine Unverschämtheit! Zudem wurde ich mal wieder an zwei Stellen ordentlich gequetscht. Wie immer lauschte ich dabei der üblichen Unterhaltung über ein gewisses ‘Zetege‘. Bei den anderen schien es auch nicht äußerst beliebt zu sein. Doch irgendetwas war dieses Mal anders. Es war überhaupt kein besonderer Argwohn in den Stimmen zu vernehmen, sondern vielmehr… Freude? Was war denn heute bloß los, wir waren diesbezüglich doch sonst immer einer Meinung!

Das CTG ist völlig unauffällig. Nicht die kleinste Wehe schlägt aus, fast 40 Minuten lang. Ich meine im Blick unserer Hebamme den Ausdruck von „Na-da-hat-sich-unsere-Erstgebärende-wohl-nur-eine-Wehe-eingebildet“ zu entdecken. Und fast glaub ich ihr: ich plaudere, als wäre nichts gewesen, wir lachen, die Hebammenschülerin ergibt sich geduldig meinen Fragen zum CTG-Gerät, und nun ja… nichts! Ich trinke ein Glas Wasser mit Kohlensäure, denn das Kind schläft tief und fest, und wir wollen mal hören, wie es sich im wachen Zustand verhält. Alles wunderbar. Chris empfiehlt mir folglich eine stramme, wehenfördernde Wanderung auf den Wurmlinger Kapellenberg zu unternehmen und frühestens in drei Stunden wiederzukommen. Den Muttermund checkt sie nicht, aus Rücksicht auf meine kleine Streptokokken-B Siedlung, die gerne da bleiben darf wo sie im Moment ist. Ergo, am Muttermund wollen wir sie nicht haben, da sind wir uns einig. Plötzlich geht alles ganz schnell, die Hebammen müssen noch zu einer dringenden Nachsorge und huschen davon. Just als die Türe hinter ihnen ins Schloss fällt, stürzt sich die nächste Wehe so heimtückisch auf mich, dass ich mich am nächsten Tischrand festkrallen muss.

Nun war ich also wach und kam nicht umhin zu bemerken, dass es nun endgültig vorbei war mit der Wohnqualität. Es war zu eng, ungemütlich, die Wände klebten nicht nur an mir, sondern fingen auch noch an zu zucken und sich kräftig zusammenzuziehen. Ich habe mal von Erdbeben gehört; das soll eine ganz üble Naturkatastrophe sein. Mir ging also durch den Kopf, ob das wohl etwas in dieser Art sein könnte? Nun, was auch immer gerade los was – es war allerhöchste Zeit hier zu verschwinden.

Ganz sicher, dass wir so noch heimfahren können? …fragt mich der Papi, an dem mein Zustand nicht unbemerkt vorbei gegangen ist. Ja natürlich, …erwidere ich tapfer, bin mir aber gar nicht so sicher, ob wir nun gerade dann das Geburtshaus wieder verlassen sollen, in dem die Wehen derart deftig einsetzen. Mit Blick auf die Uhr vermute ich, dass der Abstand zwischen den Wehen noch deutlich zu groß ist, um wirklich beunruhigt zu sein, vermerke aber mit einem dreifachen Ausrufezeichen auf meinem Protokoll, dass es nun schon ordentlich zur Sache geht. Auf der B28 setze ich (nun nachträglich, versteht sich) schon alle 6 bis 7 Minuten Kreuze und seufze laut auf, als die Wurmlinger Kapelle in Sichtweite kommt. Ich informiere den Papi darüber, dass ich nicht gedenke, heute noch eine stramme, wehenfördernde Wanderung zu unternehmen. Das habe er sich schon gedacht,… erwidert er. Zuhause angekommen sehe ich ein, dass ich die Protokollführung abgeben muss. Im Vierfüßler auf meinem Bett im zweiten Stock frage ich mich in einer der nun immer knapper werdenden Wehenpausen, wie ich meinen völlig außer Kontrolle geratenen Körper jemals wieder runter ins Auto bugsieren soll. Ansonsten bin ich hochkonzentriert dabei, auf meinen Wellen zu surfen. Ich bekomme so am Rande mit, dass der Papi die Hebamme anruft, der das Tönen im Hintergrund nicht entgeht.

Ich glaube, die Stimme da draußen war ziemlich beschäftigt. Womöglich hatte sie auch einiges mit dieser Naturgewalt zu tun. Immer wenn es besonders wild wurde, fing sie an recht laut zu werden. Bestimmt hatte sie auch Ärger damit, bestimmt wollte sie mittlerweile auch ausziehen, davon war ich überzeugt. So wie es da zuging, wäre sie wahrscheinlich auch lieber woanders gewesen.

Es ist keine Stunde vergangen, da kommen wir schon wieder im Geburtshaus an. Es ist kurz nach 15 Uhr. Der Tag zieht in einer enormen Geschwindigkeit an mir vorbei; seit dem Blasensprung sind gefühlt nicht mehr als 30 Minuten vergangen. Ich befinde mich in einer anderen Zeitdimension. Dieses Mal werden wir direkt durch die Hintertür ins Gebärzimmer geschleust, wo Chris und die Hebammenschülerin bereits auf uns warten. Hochkonzentriert auf „meine Arbeit“ muss ich wohl ein recht verkniffenes Gesicht ziehen. Ein paar Leute, die vor der Kreissparkasse nebenan warten, schauen mich bestürzt an. Eine Frau drückt ihren Sohnemann etwas enger an sich. Ob die Dame wohl denkt, dass ich hier draußen vor seinen Augen explodiere? Keine Sorge, werte Dame, wenn dann explodiere ich drinnen! Aber nein, auch drinnen explodiere ich nicht. Ich stehe, ich knie, ich lasse die Hüften kreisen, ich will mich aller meiner Kleidungsstücke entledigen – nur mein weites, rotes Kleid bleibt an. Alles ist lästig und drückt. Meine Wahrnehmung wird langsam etwas entrückt. Wehenpäuschen. Ich möge mich auf den Rücken legen, sagt Chris, nun sei der Muttermundcheck unerlässlich. Das sehe ich ein, auch wenn die Idee, dass mich eine Wehe im Liegen packen könnte, reines Grauen in mir auslöst. Checkcheck, doch Chris verzieht keine Miene: Ich sag es dir gleich.

So langsam wurde es dann brenzlig. Ich wunderte mich noch über die Stimme, die sich vorhin als verantwortlich für das Kohlensäure-Getöse geoutet hatte. Trotz des Bebens hatte sie wohl die Ruhe weg. Sie schien den Ernst der Lage nicht zu kapieren. Wir befanden uns mitten in einem Erbeben, einem Orkan, einem Tsunami! Ich streckte meinen Arm aus um mir ein bisschen Platz zu verschaffen. Doch halt mal, was war denn das? Ich entdeckte etwas Phänomenales: Ein Loch in der Wand! Wenn das mal nicht der Exit zu einem neuen Leben ist? …dachte ich mir, reckte mich mit neuer Hoffnung und checkte den Durchmesser.

Chris raunt mir verschwörerisch zu: Du bist bei acht Zentimetern.
Fabelhaft, fabelhaft, fabelhaft! Ich bin euphorisch – ich habe mir die Wehen über Mittag also nicht nur eingebildet. Schnell wieder auf die Beine, dann in den Vierfüßler. Mal versuchen, wie es sich anfühlt, die Arme auf Papis Schoß zu stützen. Ganz so, wie wir das vorab geübt hatten. Nein, das geht auf gar keinen Fall. Ich beschließe, dass ich mich auf der Toilette am Wohlsten fühlen würde. Badewanne? …kommt die Frage. Denn die hatte ich eigentlich fest miteingeplant. Nein, geht auf gar keinen Fall. So throne ich also eine gute Weile auf der Toilette im Bad, geistig zugegebenermaßen nicht mehr ganz anwesend, aber in seliger Sicherheit, dass ich nicht während einer Wehe aufs Klo rennen müsste, falls da Bedarf wäre. Vor allen Dingen bin ich ziemlich weggetreten. Die Wehen empfinde ich als zunehmend einnehmender, meine Füße sind kalt.
Chris ist bester Laune und sagt mir, dass ich das Kind auch sehr gerne auf dem Klo kriegen könne. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiere. Da erwachen meine Lebensgeister wieder. Ich finde überhaupt nicht, dass mein Kind sehr gerne auf dem Klo geboren werden kann und raffe mich bei der nächsten Gelegenheit auf. Außerdem sind meine Füße wirklich bitterkalt. „Kalte Füße hemmen Wehen“ geht es mir durch den Kopf. Auch wenn mein Körper von meinen kalten Füßen gänzlich unbeeindruckt erscheint. Zwei gute Gründe, ins warme Wasser zu wechseln.
Die Wände zogen sich derart zusammen, als wollten sie mich ausspucken. Ich zerrte gerade am neuentdeckten Ausgang, um dann alsbald das Weite zu suchen, als mein Arm bei der Arbeit einfach stecken blieb. Es ging weder vor noch zurück. Ruhe bewahren, dachte ich gerade, als die Lage mit einem Mal wieder angenehmer wurde. Mich durchlief ein wohliger, warmer Schauer. Die Stimme da draußen seufzte auf!
Ah, ist das schön… In der Badewanne angekommen bin ich glücklich. Und super, ich kann auch wieder halbwegs normal reden! Die Herztöne des Babys werden gecheckt: alles ok. Im warmen Nass gestalten sich die Wehenpausen sehr annehmlich. Chris ermahnt mich, auch mal die Stellung zu wechseln. Das tut gut. Ich bemerke das jedoch erst, nachdem ich mich murrend und meckernd gedreht und gewendet habe. Der Papi ist ziemlich tapfer, schließe ich aus seiner Unauffälligkeit im Prozess. Aber da er irgendwo neben mir am Wannenrand sitzt und ich sein Gesicht nicht sehe, kann ich es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten. Ab und zu reicht er mir ein Glas Wasser. Unsere zweite Hebamme Inna ist mittlerweile angekommen und sitzt protokollierend neben der Hebammenschülerin, die ab und zu aufsteht und ganz ruhig ein paar Bildchen knipst. Es wird sich noch herausstellen, dass sie dafür großes Talent hat. Auf einem Bild hänge ich über dem Badewannenrand und sehe aus, als wäre ich gerade bei einer Wellness-Anwendung. Tatsächlich bin ich schwer beeindruckt davon, wie viel wohler ich mich in der Badewanne fühle und wie minutiös ich mich dort an die theoretische Einführung des Geburtsvorganges vom Vorbereitungskurs erinnern kann. Mein Geist ist wieder klar, ich kann alles zuordnen, mir kommt alles gut und fließend vor, ich habe keine Angst, ich fühle mich am richtigen Platz. Hier will ich bleiben.

Dann hörte ich Atemanweisungen; die klangen ganz seriös. Waren die für mich? Was war damit gemeint? Nun, immerhin: die Kohlensäure-Getöse-Verursacherin hatte verstanden, dass man hier irgendetwas machen muss. Mein Optimismus war zurück. In einer ruhigen Minute zog ich meinen Arm zurück, was mir allerdings nur so halb gelang, und drückte mich mal probehalber mit den Füßen ab. Ich wollte da durch. Mit dem Kopf zuerst – warum nicht? Drehen war jetzt eh nicht mehr drin.

Sich über Stunden den Wehen hinzugeben ist eine Sache; am Ende noch Energie zu haben, um das Kind aus sich herauszupressen, eine andere. Auf beides kann man sich so ungefähr einstellen. Eine völlig unbekannte Herausforderung, die man sich vorher jedoch kaum vorstellen kann, liegt irgendwo dazwischen: Dein Körper will das Kind herauspressen, aber du musst ihn Kraft deiner mentalen Stärke genau davon abhalten. Ein schwieriges Unterfangen! Man ist nur noch einen Hauch von den Presswehen entfernt, von dem heißersehnten Zustand, sich endlich, endlich auch mal aktiv beteiligen zu können! Und dann – dann darf man nicht! Chris gibt Atemanweisungen. Ich ächze und winde mich unter dieser Aufgabe, doch ein paar Wehen weiter darf ich dann. Früher als erwartet schlägt Chris vor: Fühl mal nach dem Köpfchen. Ich fühl mal vorsichtig nach. Schockiert sehe ich in die Runde der Gebärgesellschaft… Die hat ja gar keine Haare! Gelächter folgt. Also ein Baby ohne Haare auf dem Kopf bei diesen Eltern – das ist völlig unmöglich! Ich kann mich jedoch leider nicht länger mit der Frage aufhalten. Denn da kommt schon die nächste, Hebammen-autorisierte Presswehe. Die Fontanelle? …hauche ich Chris am Ende der Wehe zu, da mir gerade wieder einfällt, dass ich eigentlich total Angst vor einem Sternengucker-Kind habe. Keine Sorge… sagt sie, alles richtig.

Ah. Irgendetwas juckte am Kopf. Wenn ich mich nur hätte kratzen können. Aber mein Arm steckte fest. Ich steckte fest. Mon dieu! Und die da draußen behaupteten, alles sei richtig so. Ich dachte, die spinnen doch, die spinnen doch vollständig! Und mir wurde plötzlich ganz schwindelig.

Es ist verzwickt. Schon zum vierten Mal ist der Kopf des Kindes so gut wie geboren, wird aber direkt im Anschluss an die Presswehe wieder gefühlte 15 Zentimeter eingesogen. Hallo? Ich bin verärgert und schimpfe wie ein Rohrspatz. Ich finde, das ist echter Hochleistungssport, dieses Pressen. Es riecht unheimlich nach Popcorn, jemand hat es gerade in die Mikrowelle gesteckt. Bestimmt irgend so ein anthroposophischer Trick,… denke ich mir. Jetzt nochmal richtig mitschieben,… sagt Chris. Ich schreie jetzt auch wie eine Hochleistungssportlerin. Und es hilft. Da ist es endlich! Ich lege meine Hand selig auf das Hinterköpfchen des Babys; die kommt da erstmal nicht mehr weg. Es ist haarig …stelle ich fest. Chris schmunzelt: Siehst du, also doch. Langsamer atmen. Ich kraule das Köpfchen und bin hin und weg. Ich entdecke mit meinen Fingerspitzen voller Entzücken ein Öhrchen. Süüüß… sage ich und bin dabei ziemlich kitschig. Chris lacht: Finde ich auch. Neben mir, auf der Badewannenablage brennt eine kleine Kerze. Eigentlich ist das alles sehr romantisch hier und fühlt sich relativ normal an- nur eben, dass ein kleiner Kopf aus mir rausguckt.
Der Papi ist offensichtlich noch bei Bewusstsein. Er erkundigt sich: Spürt sie Ihre Hand? Die Kleine wird sich bestimmt fragen: Was ist denn hier los? Und: Wer ist das? …wirft Inna berechtigterweise ein. Ich kann beim gebärphilosophischen Quiz leider nicht mitspielen. Ich bin eine seriöse Hochleistungssportlerin! Den Schmerz finde ich kaum der Rede wert, irgendwie geht der so ein bisschen an mir vorüber. Aber warum ist das hier so ein enormer Kraftakt? Gleich schieße ich hinten durch die Wand, rein in die Kreissparkasse und werde dann wohl doch noch vor der besorgten Mutter und ihrem Söhnchen explodieren! Chris denkt das nicht. Ruhig aber ziemlich bestimmt sagt sie: Jetzt drücken. Sie lässt ein wenig Badewannenwasser ab und fasst -von mir fast unbemerkt- kurz mit an, so dass der Baby-Oberkörper endlich seinen Weg nach draußen findet. Aaah, sie hat das Händchen vor dem Mund… sagt Chris, als hätte sie gerade ein interessantes Kreuzworträtsel gelöst. Na, das erklärt ja so einiges! Du musst jetzt nur noch einmal schieben… befindet sie. Und nochmal. Und nochmal. Und plötzlich ist fast das ganze Kind geboren.
Und jetzt hol sie dir mal selber raus, aber schieb von drinnen mit… sagt Chris. Gesagt, getan. Ich fische mir also das winzige, violett-bläulich angelaufene Wesen aus der Badewanne und lege es mir vollen Glückes auf die Brust. Ich grüße, doch das Baby gurgelt nur etwas Unverständliches zurück. Chris schnappt sich das Neugeborene kurz und massiert den winzigen Rücken, so dass es das restliche Wasser aus den Lungen loswird. Nun quäkt und schreit es kurz auf, ganz nach Lehrbuch. Sofort liegt das Kind wieder auf mir, warme Handtücher werden über es gelegt. Man weiß ja vorab, dass eine Schwangerschaft im Normalfall damit endet, dass man ein kleines, nacktes Menschlein aus sich herausgebiert, aber dann mitten in diesem Moment zu stecken ist wahrlich absurd, surreal, zauberhaft, erstaunlich, unfassbar, berauschend. Ohne Umwege verleihe ich ihm den Titel „bester Augenblick meines Lebens“, und habe nun endlich Bedarf und Gelegenheit, den Blick des Papis zu suchen. Er schaut zugegebenermaßen ein bisschen mitgenommen aus. Ich bekomme trotzdem einen innigen Kuss auf die Stirn, nachdem er das neue Familienmitglied mit ein paar berührten, französischen Wörtern begrüßt hat. Es ist kurz nach halb fünf nachmittags. Anderthalb Stunden, … rechne ich. Dieses Baby wusste ganz genau, wohin es wollte.

Dann kam ich wieder zu mir. Wo war der ganze Wiederstand? Was schlang sich da um meinen Körper? Warum war es so ruhig und warum hörte ich die Stimme so nah? Warum fühlten sich meine Haut und meine Lungen so kühl an? Ich riss die Augen auf, und ich konnte kaum fassen was ich da sah und fühlte. Liebe Leserinnen und Leser, ich begann so langsam zu begreifen! Diese Naturgewalt, das war die Geburt meiner Mutter!

Für die wundervolle Begleitung, für das richtige Wort zu richtigen Zeit, für Lob und Popcorn, für die schöne, schmunzelnde Atmosphäre während unseres kurzen Aufenthalts im Geburtshaus, vielen Dank Chris und Inna!

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