Anouk, Du Witzbold, wunderbarstes Kind,
Du bist jetzt fast drei Wochen alt, seit zwei Wochen bist Du bei uns zuhause.
Fast neun Monate lang haben Dein Papa und ich uns auf Dich gefreut, haben uns ausgemalt, wie es sein würde mit Dir und wie Du sein würdest. Auch Deine Geburt haben wir uns oft vorgestellt. Wir haben oft darüber gesprochen.
Der errechnete Termin für Deine Geburt war der 22. Januar, deswegen dachte ich immer, es würde Schnee geben, wenn Du auf die Welt kommst. Ich dachte auch, dass Du im Geburtshaus geboren werden würdest; im warmen Badewasser, mit einer Kerze und nur umgeben von Menschen, die wir kennen und dass wir die Stunden und Tage nach Deiner Geburt dafür nutzen könnten, uns kennenzulernen; eng aneinander gekuschelt im warmen Bett.
Schon mit Deiner Geburt hast Du uns gezeigt, dass Kinder die Welt von ihren Eltern auf den Kopf stellen und dass nicht wir die Pläne für Dich machen. Ich hatte nämlich auch gedacht, dass Du dich sicher bereits vor dem errechneten Termin auf den Weg zu uns machen würdest – tatsächlich kam der 22. Januar und nichts wies darauf hin, dass Du schon Lust hättest, meinen Bauch zu verlassen. Am Vormittag war ich im Geburtshaus zu einem Vorsorgetermin bei Chris. Wir vereinbarten noch, dass wir uns am Montag wieder treffen würden, falls Du am Wochenende nicht auf die Welt kommen würdest, denn Chris hatte über das Wochenende frei. Es war ein Freitag und Freitags muss Dein Papa nicht so lange arbeiten, deswegen setzte ich mich noch in eine Bäckerei, um dort ein bisschen zu schreiben. Ich wollte etwa zur gleichen Zeit wie dein Papa nach Hause kommen. Ich kam trotzdem einige Zeit vor ihm heim und begann damit, die Wohnung sauber zu machen (angeblich machen Eltern oft am Tag vor der Geburt ihres Kindes noch einen Großputz –vielleicht wollte ich Dich damit also locken, vielleicht wollte ich aber auch einfach nur, dass es schön ist, für Dich). Als Dein Papa dann nach Hause kam, fing auch er an zu putzen und wir haben an diesem Freitag bis zum Abend die ganze Wohnung so sauber gemacht, wie wir es davor wahrscheinlich noch nie freiwillig gemacht haben. Erst als alles fertig war, sind wir einkaufen gefahren, haben noch einmal Vorräte besorgt und schön gekocht. Dein Papa sagte mir, dass er am Montag nicht arbeiten müsste, weil sein Chef sich mit uns auf Dich freute und auch ganz aufgeregt war und ich war glücklich darüber, dass er dann beim Vorsorgetermin dabei sein könnte- Abends, bevor wir zu Bett gingen, verriet ich ihm aber, dass ich das Gefühl hätte, dass Du bereits am Wochenende auf die Welt kommen würdest.
Tatsächlich hast Du uns schon wenige Stunden später mit einem Knall gezeigt, dass Du jetzt geboren werden willst – noch vor Tagesanbruch verlor ich große Mengen Fruchtwasser, so dass das ganze Bett nass wurde. Dein Papa und ich waren überglücklich und sehr aufgeregt, denn jetzt wussten wir, dass wir Dich demnächst endlich würden in den Armen halten können. Weil Chris frei hatte, riefen wir bei Silke an. Sie sagte uns, dass wir regelmäßig meine Temperatur messen und auf die Wehen warten sollten. Natürlich riet sie uns auch dazu, noch ein bisschen zu schlafen, aber so aufgeregt wie wir waren, war uns das nicht mehr möglich. Dein Papa bezog das Bett neu und wenige Zeit später war auch das neue Bettlaken nass. Wir machten alberne Fotos und kurz danach begannen meine Wehen; sie waren zwar noch nicht so intensiv, aber sie kamen gleich in kurzen Abständen von zwei Minuten.
Ich nahm eine Dusche, Dein Papa und ich tanzten im Badezimmer herum und dann beschlossen wir, noch einen Kartoffelsalat zu machen, da wir uns sicher waren, dass wir am Abend zu dritt daheim sein würden. Wir dachten, wir seien dann sicher erschöpft von der Geburt und würden uns über etwas zu essen freuen. Als der Bäcker um halb sieben am Morgen öffnete, kaufte Dein Papa ein großes Frühstück für uns ein – wir dachten, dass wir von nun an wahrscheinlich lange nicht mehr zu zweit frühstücken würden.
Die Kontraktionen meiner Gebärmutter wurden nach und nach stärker; immer noch kamen sie in den kurzen Abständen. Ich versuchte, reichlich zu trinken und zwischendurch legten wir uns immer wieder ins Bett, um doch noch ein bisschen Schlaf abzubekommen. Ich sah mir einen Geburtsbericht an, den ich sehr mag, Dein Papa massierte meinen Rücken; ich versuchte, mich an die ruhige Atmung zu erinnern, die wir im Hypnobirthing-Kurs gelernt hatten und konnte stattdessen nur ein tiefes, lautes Geräusch von mir geben, immer dann, wenn meine Wehen kamen. Als ich dachte, dass die Kontraktionen nun doch recht stark seien und Deine Geburt sicher nicht mehr allzu lange brauchen würde, riefen wir wieder bei Silke an und verabredeten uns für den Vormittag im Geburtshaus.
Ich musste spucken, vielleicht von all dem Wasser, das ich getrunken hatte oder von der Anstrengung. Bevor wir ins Geburtshaus fuhren, machten wir noch einen Halt bei einem großen Supermarkt, denn ich hatte mir für nach Deiner Geburt ein Frühstück gewünscht, mit all dem, was ich in der Schwangerschaft hatte meiden müssen. Während Dein Papa wahrscheinlich sehr nervös durch den Laden rannte, wartete ich im Auto und fragte mich, ob all die Leute, die an mir vorbei liefen, mir ansahen, wie sehr mein Leben sich gerade veränderte. Immer wieder schaute ich in den Rückspiegel, denn ich konnte es nicht erwarten, dass Dein Papa aus dem Laden zurückkam, konnte es nicht erwarten, endlich ins Geburtshaus zu fahren.
Als wir dort ankamen, prüfte Silke deine Herztöne am Kardiotokographen. Ich kniete vor dem Geburtsbett, irgendwann legte ich mich hin. Deine Herztöne waren stark und gut. Mein Muttermund war noch nicht weit geöffnet; Silke ließ uns das Bad ein, das ich mir schon den ganzen Morgen gewünscht hatte, sie wollte den Mittag nutzen, um ein paar Hausbesuche zu machen. Anja kam vorbei, sie sah regelmäßig nach uns während Silke unterwegs war, prüfte Deine Herztöne und fragte, wie es uns ginge.
Die nächsten Stunden erinnere ich nur verschwommen. Dein Papa und ich saßen in der warmen Badewanne, wir tranken Minztee, hörten die Musik, die ich für Deine Geburt ausgesucht hatte, hatten eine Kerze und eine Duftlampe angezündet und zwischen den Wehen entspannte ich mich so sehr, dass ich immer wieder ein bisschen eingeschlafen bin. Dein Papa fuhr damit fort, mich zu massieren, er machte Fotos und umarmte mich, war die ganze Zeit über da und irgendwann sagte er zu mir: „Es ist noch viel schöner, als wir uns die Geburt vorgestellt haben“. Ich dachte, dass er so recht damit hatte und dass ich das genauso empfand.
Die Stunden vergingen und ich wunderte mich, dass Du dir so viel Zeit ließt, wo ich doch damit gerechnet hatte, dass Deine Geburt nicht lange brauchen würde. Als Silke wieder kam, schlug sie uns vor, die Badewanne zu verlassen. Wir legten uns auf das Bett, wo ich die Kontraktionen sehr viel intensiver spürte. Als Silke mich untersuchte, stellte sie fest, dass mein Muttermund nun schon sehr viel weiter geöffnet war als am Vormittag. Darüber freuten wir uns sehr.
Feli, die Hebammenschülerin, die zu dieser Zeit im Geburtshaus hospitierte, kam dazu. Sie und Silke ermutigten mich, immer wieder die Position und den Ort zu wechseln. Vom Bett gingen wir wieder in die Badewanne, von dort aus auf die Toilette und wieder ins Bett, lehnten uns über die Theke, gingen wieder in die Wanne und wieder auf die Toilette. Es wurde Abend, es wurde immer später, deine Herztöne waren die ganze Zeit über kräftig und gut.
Irgendwann merkte ich, dass Du nun wirklich endlich auf die Welt kommen wolltest. Ich versuchte, nach unten zu atmen, versuchte Dir zu helfen, Dich herauszuschieben, aber nichts passierte. Noch immer war mein Muttermund nicht ganz geöffnet. Wieder versuchten wir verschiedene Positionen und verschiedene Orte, ich sollte durch meine Lippen pusten wie ein kleines Pferd um meinen Beckenboden aufzulockern, aber mein Mund war zu trocken und ich fand es schwierig, mich darauf zu konzentrieren.
Dein Papa war sehr müde, es war für uns alle ein sehr anstrengender Tag und in der Nacht zuvor hatten wir wenig geschlafen. Auch ich war müde und erschöpft, wollte Dich endlich, endlich bei uns wissen und vor Erschöpfung war ich wie in Trance, ich bekam kaum mit, was um uns herum passierte. Schon war fast Nacht, wir lagen wieder auf dem Bett und irgendjemand sagte zu mir, dass Deine Herztöne sich verschlechtert hätten und dass wir nun für den Rest Deiner Geburt ins Krankenhaus fahren würden, dort sei auch schon ein Kinderarzt informiert. Im Nachhinein denke ich, dass Du uns durch Deinem Herzschlag zeigen wolltest, dass es Dir nicht so gut ging und dass das sehr schlau von Dir war.
Vor dem Fenster sah ich das blinkende blaue Licht eines Krankenwagens, einige Männer kamen herein; ein netter Notarzt sagte zu mir, dass ich Dich wahrscheinlich nicht mehr auf natürlichem Weg zur Welt bringen könnte und ich hatte das Gefühl, es würde von mir erwartet, dass ich mich um Dich sorgen würde, aber in Wirklichkeit habe ich die ganze Zeit geglaubt, es sei nur ein Missverständnis, es ginge Dir gut. Ich wurde auf die Krankentransportliege gehoben, mit einer Thermodecke zugedeckt und an einen Überwachungsapparat angeschlossen. Dein Papa musste sich nach vorne in die Fahrerkabine setzen, während Silke und Feli gemeinsam mit dem Notarzt hinten bei mir mitfahren durften.
Wir sind dann wohl im Krankenhaus angekommen und mit einem Aufzug gefahren. Auf dem Weg in den Kreißsaal sah ich an einer Informationstheke einen aufgebrachten Mann stehen, und ich weiß noch, dass ich dachte, das sei der Kinderarzt, der sich darüber ärgerte, dass er grundlos gerufen worden war. Silke und Feli durften uns in den Kreißsaal begleiten, auch wenn dort die Krankenhaus-Hebamme übernahm. Sie und Silke kannten sich; ich war überrascht, wie nett sie war und vertraute ihr gleich.
Dein Papa hat mir erzählt, dass Blut aus deinem Kopf entnommen wurde, um zu überprüfen, wie es Dir geht, ich habe von alldem wenig mitbekommen. Es ging Dir so gut, dass die Hebamme sagte, dass wir Deine Geburt noch natürlich zu Ende bringen können würden und ich freute mich darüber, auch wenn ich erschöpft war. Dein Kopf war schon zu sehen, irgendjemand sagte, dass Du rotblonde Haare hättest, wie Dein Papa und dann wurde ein Spiegel zwischen meine Beine gehalten, so dass auch ich Deinen Kopf sehen konnte. Ich schrie Deinen Papa an, dass er nicht schauen sollte und dann warst Du schon soweit geboren, dass ich Dich zum ersten Mal streicheln konnte. Deinen Kopf zu spüren, das war das unglaublichste Gefühl und dann war Mitternacht, es wurde Sonntag und Du bist in meine Hand hinein gerutscht und warst einige Augenblicke später auf der Welt, Sonntagskind. Ich konnte Dich in den Arm nehmen und ich glaube (das glauben wahrscheinlich aber die meisten Eltern, die zum ersten Mal ihr Kind im Arm haben dürfen), dass noch nie jemand auf der ganzen Welt so überwältigt und überglücklich war, wie Dein Papa und ich in diesem Augenblick.
Silke hat dann allen mitgeteilt, dass Dein Papa und ich selbst herausfinden wollten, ob Du ein Junge oder ein Mädchen bist. Uns hätte in diesem Moment eigentlich nichts unwichtiger sein können, aber die Kreißsaal-Hebamme verriet es versehentlich, in dem sie von Dir als „Sie“ sprach. Wir taten, als hätten wir es nicht gemerkt und sahen nach und waren überglücklich und wir wollten nichts, als mit dir kuscheln und als Familie einschlafen.
Dass wir aber nicht so einfach würden mit Dir nach Hause gehen können, war schnell klar: Du bist mit der Nabelschnur um den Hals geboren und meine Fruchtblase ist schon 20 Stunden bevor Du auf die Welt kamst geplatzt; das sind im Krankenhaus Gründe, die eine Überwachung notwenig machen. Und wieder denke ich im Nachhinein, dass Du uns damit vielleicht nur zeigen wolltest, dass es Dir nicht gut ging und ich bin sehr froh, dass Du das getan hast.
Als Du dann nämlich drei Stunden alt warst, stellte der Kinderarzt fest, dass der Sauerstoffgehalt in Deinem Blut nicht so hoch war, wie er sein sollte. Den Grund dafür wusste er da noch nicht, aber Du wurdest auf die Neugeborenen-Intensivstation verlegt und Dein Papa und ich durften Dich erst einige Stunden später besuchen kommen. Wir waren vorerst wieder zu zweit und in der kommenden Woche waren wir das viel zu oft. Du hattest nämlich eine Neugeboreneninfektion, die glücklicherweise gut behandelt werden konnte, weil sie so früh entdeckt worden war. Dass wir Dich in Deiner ersten Lebenswoche dann immer im Krankenhaus besuchen mussten, war sicherlich nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten und vor allem für Dich war das bestimmt kein schöner Start in Dein Leben. Aber die Woche ist vorbei, Du bist bei uns daheim und wir könnten glücklicher nicht sein.
Anouk, Witzbold, allerliebstes Kind; an Deinem Geburtstag lag kein Schnee und Du kamst auch nicht im Geburtshaus im warmen Badewasser zur Welt. Mit Deiner Geburt hast Du uns gezeigt, dass im Leben nicht alles nach Plan laufen kann – vor allem nicht, wenn Kinder im Spiel sind – und wir freuen uns sehr darauf, jetzt und in Zukunft noch sehr viel mehr von Dir lernen zu dürfen.